Auszug aus dem Roman "Undercover als Fetisch-Escort" von Vanessa Silver
Ihr Puls rast, als sie aus dem Aufzug im 11. Stock des Münchner Luxushotels stieg. Ein japanisches Pärchen schaut der attraktiven jungen Frau im kurzen schwarzen Cocktailkleid hinterher, die für ein, zwei Sekunden die Wegweiser mit den Zimmernummern studierte, sich durch die langen dunkelbraunen Haare streicht und dann auf ihren hohen Absätzen in den linken Gang entschwebt.
Eher unterbewusst entdeckt sie die Überwachungskamera an der Decke, während sie nur wenige Meter vom Zimmer 1155, einer der sündhaft teuren Suiten, entfernt ist. Auf dem dicken Teppichboden hinterlassen ihre High Heels keine der üblichen Geräusche, dennoch dröhnt es laut in ihrem Kopf und ihre Gedanken überschlagen sich: „Anja, Du musst das nicht machen. Du überschreitest gleich nicht nur die Schwelle zu einem fremden Hotelzimmer, sondern zu einer Welt, bei der Du die Kontrolle verlierst. Einer Welt, die gefährlich und traumatisch sein kann!“
Vor der Suite holt sie einmal tief Luft. Ein letztes Mal streicht sie sich durch die Haare, hebt den Arm und klopft an die Tür, hinter der ein fremder Mann auf sie wartet. Ein Mann, der nicht nur Sex mit ihr haben will, sondern sie dafür bezahlen wird, um sie schlagen zu dürfen. Ein Mann, dessen Wutausbrüche berüchtigt sind und der im permanenten Fokus mehrerer Ermittlungsbehörden steht. Vermutlich auch genau in diesem Moment.
Ein Mann, bei dem nicht klar ist, ob ein erotisches Rollenspiel vielleicht brutal aus dem Ruder laufen wird. Ein Krimineller, der dennoch in dem Ruf steht, eine Faszination auf Frauen auszuüben. Der es nicht nötig hätte, für teures Geld eine Bettgefährtin bei einem Escort-Service zu buchen. Nein, ihm geht es um Fetisch und in seiner dominanten Fantasie hat er vermutlich Pläne mit ihr, die ihm keine seiner zahlreichen Affären durchgehen lassen würde. Reichtum und Macht hin und her.
Als sich die Tür öffnet, setzt sie trotzdem ihr süßestes Lächeln auf. Eine der stärksten Waffen jeder Frau, die sie schon seit Mädchentagen perfekt beherrscht. In diesem Moment ist ihr die Angst nicht mehr anzusehen. Langsam betritt sie die Suite mit dem atemberaubenden Blick auf die nächtliche Großstadt.
„Hi, ich bin Anja! Ich freue mich, Dich kennenzulernen!“, flötet sie, legt die Arme um seinen Hals und gibt ihm einen Begrüßungskuss. Sie muss dabei fast auf die Zehenspitzen gehen, denn trotz ihrer hohen Absätze ist er mindestens einen Kopf größer. Sie zieht ein Bein hoch und seine Hände greifen an ihr Gesäß. Ein Beobachter würde den Eindruck gewinnen, dass sie Ibrahims junge Freundin wäre. Eine vertraut-anmutende Begrüßung, die man ihr bei der Escort-Agentur empfohlen hat. Eine Geste, die das Eis brechen und eine verkrampfte Situation auflösen soll.
Der Mann, der sie für eine ganze Nacht gebucht hat und bereit ist, dafür ein kleines Vermögen auszugeben, erwidert ihr Lächeln nicht. Er mustert sie forschend, nimmt seine Hände von ihrem Po und bedeutet ihr mit einer Geste, den Wohnraum der erstaunlich wenig beleuchteten Suite zu betreten.
Vor der großen Glasfront steht ein eleganter Schreibtisch. Der Wohnraum verfügt zudem über eine Sofalandschaft, einen Esstisch und mehrere heruntergedimmte Stehleuchten. Links und rechts sieht sie große Schiebetüren. Vermutlich kommt man hier ins Schlafzimmer und in das Badezimmer, denkt Anja und fragt sich, wie es weitergeht. Welche Fantasien er mit ihr befriedigen will. Ibrahim, der angebliche Clan-Boss, um den sich viele Legenden ranken.
Während sie die Skyline betrachtet, hört sie das Geräusch einer Schiebetür: „Deine Tasche!“ Der scharfe Befehlston lässt sie erschreckt umdrehen. Die Stimme gehört einem weiteren Mann, der soeben den Raum betreten hat und den Arm nach ihrer Handtasche ausstreckt. Er hat die Figur eines durchtrainierten Türstehers und schaut sie wenig freundlich an. Kein Zweifel, das war keine Bitte, das war ein Befehl.
Sie nimmt zögerlich die Tasche von ihrer Schulter und reicht sie Ibrahims Handlanger. Der Bodyguard, oder welche Rolle er einnimmt, packt ihre Handtasche, stellt sie auf den Schreibtisch und greift nach einem Kontrollgerät, wie man es vom Flughafen her kennt. Er bewegt das Gerät mehrfach an der Tasche entlang, währenddessen ein unterschiedlich hoher Piepton zu hören ist. Dann legt er den Stab zur Seite und schüttet den Inhalt ihrer Tasche auf dem Schreibtisch aus.
„Hey, man wühlt nicht in der Tasche einer Dame!“, entfährt es Anja, die selbst über ihren forschen Ton erschrickt. Der Muskelprotz nimmt davon keine Notiz, begutachtet ihre Make-up-Utensilien und ihre Ersatzwäsche. Er öffnet ihre Geldbörse und betrachtet ihre Ausweise und Kreditkarten. Schließlich untersucht er ihr Handy und legt es zur Seite.
Dann entdeckt er eine Innentasche mit Reißverschluss und fingert ihren Wohnungsschlüssel heraus und ein kleines Diktiergerät, das er fragend in Richtung seines Chefs hält. Anja stockt der Atem.
„Was hast Du damit vor?“ Ibrahim ist dicht hinter sie getreten und flüstert ihr die Frage ins Ohr. Emotionslos, aber dennoch bedrohlich.
„Warum?“, Anja dreht sich zu ihm um und bemüht sich um einen selbstsicheren Tonfall: „Ich dachte, wir hätten ein romantisches Date! Ist das hier ein Verhör-Rollenspiel?“
Ibrahim schaut sie weiter eindringlich, ohne erkennbare Emotionen, an. Dann holt er blitzschnell aus und verpasst ihr eine schallende Ohrfeige, die sie auf ihren High Heels stolpern lässt. Tränen schießen ihr in die Augen und sie greift nach ihrer brennenden Wange.
„Was hast Du damit vor?“, wiederholt er seine Frage. Der weiterhin emotionslose Tonfall macht ihr Angst. „Ich habe das heute für die Uni gebraucht!“, erwidert sie schüchtern: „Ich erstelle Interviews für meine Bachelor-Arbeit und nehme diese damit auf.“ Hinter ihr hört Sie das Klicken der Tasten des Rekorders. Sie hört für ein paar Sekunden ihre eigene Stimme vom Band. Dann wieder ein Klicken.
„Was studierst Du?“ Anja gewinnt ihre Fassung zurück, schaut zu ihm auf, versucht ein Lächeln und antwortet: „Politologie“. Sie fährt sich reflexartig nervös durch die Haare und Ibrahim tritt wieder nah an sie heran, legt seine Arme um ihre Hüfte und greift erneut mit beiden Händen nach ihrem Po. Dann gibt er ihr einen Kuss auf die schmerzende Wange.
„Yussuf, gib ihr die Tasche zurück. Das Telefon und den Rekorder behältst du erstmal!“ Ibrahim wechselt ins Arabische und gibt seinem Mitarbeiter weitere Anweisungen, die Anja nicht versteht. Woraufhin der anfängt, ihre Sachen wieder in die Tasche zu legen, und ihr diese wortlos reicht. Ihr Smartphone und das Diktiergerät nimmt er befehlsgemäß an sich. Während Anja nach ihrer Tasche greift und sich diese wieder umhängt, reicht ihr Ibrahim schweigend einen Umschlag – ihren Escort-Lohn für die bevorstehende Nacht.
Sie lächelt mit einem Augenaufschlag und wäre doch am liebsten aus der Suite gerannt. Nach einem dezenten Blick in den Umschlag steckt sie diesen in ihre Handtasche und sammelt ihren gesamten Mut:
„Und jetzt? Willst Du weiter Verhör spielen oder machen wir uns eine schöne Nacht?“